365 Tage mit der Fotografin Julia Kojeder

Julia fotografiert seit 2020 jeden Tag mindestens ein Bild.

Wie es dazu kam, wie ihr Workflow aussieht, und wie sie sich motiviert, dranzubleiben, erzählt sie in diesem Interview.

Wie hat dein 365 Tage Projekt begonnen?

Alles hat 2020 in einer Facebook-Gruppe von Echtes Leben Zeigen begonnen. Ich war neugierig, interessiert und wollte wissen, ob ich es denn schaffen würde, durchzuhalten.  Retrospektiv gesehen, muss ich über mein „2020 Ich“ schmunzeln. Wie weit ich seither gekommen bin, was ich durch, in und mit diesem Projekt lernen durfte, davon möchte ich heute erzählen. 

Die ersten Wochen des neuen Jahres vergingen. Ich war noch immer dabei, das Projekt in meinen Alltag zu integrieren. Ein kurzer Anflug von Resignation und ein Wimpernschlag später befanden wir uns im ersten Lockdown. Eine Herausforderung. Emotional. Organisatorisch. Zwischenmenschlich. 

Wie kann man sich nahe sein, ohne sich nah zu sein? 

Mein 365 Tage Projekt erlangte nun einen komplett neuen Stellenwert in meinem Alltag, der plötzlich alles andere als alltäglich war.  Das Projekt ging von anfänglicher Herausforderung über zu einem Anker. Meinem Rettungsanker. Ein Anker in einer Zeit, die mich vor viele Herausforderungen stellte.  

Ich begegnete meinen Ängsten, meiner Überforderungen und fand Frieden in einer Zeit, die mich auf das Wesentlichste konzentrieren ließ. Ich vermisste so viel und doch so wenig. Allem voran die Freiheit. Die Freiheit, die für mich so selbstverständlich war. 

Die Zeit verging, ich merkte, wie selbstverständlich das tägliche Fotografieren für mich geworden war. Das Gleichbleibende, das sich Wiederholende, das Planbare in einer so unsicheren Zeit. 

Und ich erkannte noch etwas: wie sehr meine Seele in Bildern spricht. 

Diese Erkenntnis und diesen Frieden, den ich in der zuerst geglaubten Herausforderung gefunden hatte, trieb mich an, weiterzumachen. Mein visuelles Tagebuch war fast voll und ich wusste, dass es noch nicht zu Ende sein kann. Dass es „das“ noch nicht gewesen ist. Ich wollte weitermachen.  Mittlerweile sind 1457 Tage seit meinem ersten Bild vergangen und das Leben hat in dieser Zeit, viele Wendungen genommen. 

Es hat mich durch die tiefsten und traurigsten Stunden meines Lebens getragen, mir Hoffnung geschenkt und erneut gezeigt: no feeling is final. Ich war kurz davor, aufzuhören. Weil mir Kraft und Zuversicht fehlten. Doch ich tat es. Und es war mitunter eine der besten Entscheidung, die ich treffen konnte. Denn es half mir zu begreifen. Zu verstehen. Es ließ mich trauern und nach vorne sehen. 

Das Projekt ist nach so vielen Jahren noch immer fester Bestandteil meines Lebens. Kaum noch, gehe ich ohne Kamera aus dem Haus.  

Sie zeigt mir, wer ich bin. 

Sie zeigt mir das Schöne. 

Das Unperfekte. 

Das Schmerzhafte. 

Denn all das bin ich.  

All das ist mein Leben. 

Wie schaffst du es dabei zu bleiben? Was motiviert dich?

Zu Beginn hat mich die Gruppe sehr motiviert, dranzubleiben. Das sich gegenseitig Mut machen, inspirieren und teilhaben lassen. 

Was mich heute motiviert? 

Ich bleibe dran, weil ich es wirklich will. Aus vollster Überzeugung, dass es mir guttut.  Die Fotografie hilft mir, mich selbst zu verstehen. Ich denke, es ist wichtig, sein Warum zu finden. Für mich ist es eine Mischung aus: „alles kann – nichts muss“. Losgelöst von Aufträgen.  Bilder nur für mich. Es gibt Tage, da bin ich uninspiriert.  Zu Beginn hatte ich sehr hohe Ansprüche an mich selbst. Immer kreativ zu fotografieren. Doch ich konnte loslassen und mich auf den Prozess einlassen. Weil ganz ehrlich, manchmal ist da einfach wenig Zeit, Muße oder Motivation. 

Und ja, ich darf unkreativ sein. Ich darf sein!
Eine wertvolle Erkenntnis der letzten Jahre. 

Mittlerweile kann ich diese „Flaute“ willkommen heißen und versuche mir keinen Druck zu machen.  Es geht nicht um Perfektion, es geht um mich. Ich will mir nichts beweisen müssen.  Es gibt Tage, da ist mir einfach nach nichts. Dann fotografiere ich dieses vermeintliche „Nichts“. 

Wie ist dein täglicher Workflow?

  • Ich fotografiere täglich (oft nicht nur ein Bild) 

  • Abends suche ich dann das Bild für den jeweiligen Tag aus (wenn ich es nicht am selben Tag schaffe, dann markiere ich mir die Bilder als Favoriten) 

  • Ich lade alle Bilder immer direkt auf mein Handy, oder ich habe sie direkt mit dem iPhone aufgenommen  

  • Für die Bearbeitung nutze ich die Lightroom mobile App und/oder Snapseed direkt am Handy – danach lade ich das Bild in mein 365 Tage-Album und poste es auf Instagram @3hunder65 – aktuell komme ich nicht immer gleich dazu, die Bilder zu bearbeiten und zu posten, meine persönliche „Schmerzgrenze“ sind 2 Wochen, ansonsten wird das Aufholen zur Herausforderung :) 

    Mit folgenden Kameras fotografiere ich meinen Alltag: 

  • Ganz viel fotografiere ich mit meiner Fuji XT4, meine immer dabei Kamera (klein, handlich und meine absolute Lieblingskamera

  • Viele meiner Bilder entstehen mit meinem iPhone, weil ich das so gut wie immer bei mir habe und ich das Fotografieren mit dem Handy sehr gerne mag 

  • Selten aber doch auch mit meiner Canon 6D Mark IV 

Welche Rolle spielt die Intuition in deiner Arbeit?

Wenn ich so darüber nachdenke, dann war sie wohl schon immer da.  Zu Beginn war der mir selbst auferlegte Druck es zu „schaffen“, so groß, dass ich meiner Intuition kein Gehör geschenkt habe. Ich wollte um jeden Preis durchhalten und täglich mindestens ein tolles Bild kreieren. Es hat etwas gedauert, um festzustellen, dass es mit dieser Motivation nicht klappen kann. Dass Druck genau das Gegenteil erzeugt. Mich zum Zweifeln und fast zum Aufgeben gebracht hat.  Dann habe ich mir die Frage gestellt: 

Was möchte ich erreichen?  Was will ich mir beweisen? Oder wem? 

Als ich diese Fragen für mich klären und den Druck abschütteln konnte, habe ich meinen Frieden gefunden. Dieser dabei entstandene Frieden, hat meiner Intuition die Hand gereicht und sich mit ihr verbündet. „Alles kann, nichts muss“, ist zu meinem Mantra geworden. 

Ich darf! Ich bin genug! 

Die Intuition fühle ich, wenn ich durch den Sucher blicke. Ich habe die Jahre über gelernt, richtig hinzusehen. Mich zu fragen, was es denn ist, das mich wie magisch anzieht. Ich schaue gerne nach oben, beobachte die Menschen und liebe diese kleinen, oft unscheinbaren Dinge, die uns umgeben. Mein Blick auf die Welt. Mein Blick in die Welt. 

Meine Bilder sind das Echo meiner Seele. 


Das 365 Tage Projekt ist so viel mehr für mich, als nur zu fotografieren. Diese Bilder sind ein Abziehbild meiner Gefühlswelt. Ein Versuch, zu verstehen. Ein Versuch, zu begreifen. Ein Versuch, ich selbst zu sein.

Was machst du mit den Bildern?

Da ist eine gute Frage. Ich habe das erste Jahr drucken lassen. Das möchte ich auch mit den anderen Jahren machen. Eine Edition wäre toll. Ich weiß nur nicht, wie und in welchem Umfang. Ich schreibe für mein Leben gerne und liebe schöne Worte und Poesie über alles. 

Vielleicht ein kleines Buch in kleiner Auflage. Für Liebhaber*innen und Alltagspoet*innen.
Wer weiß, die Zeit wird irgendwann reif dafür sein. Und ich es vielleicht auch.

Vielen Dank, Julia!

Alle Fotos stammen aus Julias 365-Tage Projekt


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