Das Gefühl von Berlin 

Kann man die Stimmung einer Stadt in dokumentarischen Bildern ausdrücken?

Aus dem Film Menschen am Sonntag

Und wie sieht es aus, wenn diese Stadt Berlin ist, ein Popstar unter den Städten der Welt, zu der wir alle schon Bilder im Kopf haben? Gibt es überhaupt die Stimmung, ist sie nicht jeden Tag, jede Stunde, in jedem Kiez, für jeden Menschen anders? 

Viele Künstlerinnen und Künstler haben schon versucht, zu zeigen, wie Berlin sich für sie anfühlt. Spannenderweise gab es vor genau 100 Jahren eine Bewegung in der Fotografie und im Film, die versuchte, die Realität poetischer, subjektiver und experimenteller abzubilden, so wie es mit Expanded Documentary in der Fotografie zurzeit wieder stattfindet. Der Schauplatz, an dem die Bilder sich von einem objektiven Anspruch hin zu einem persönlichen bewegten, war sowohl in der Fotografie als auch im Film die Straße.

Wir finden, dass diese persönliche Herangehensweise viel spannender ist, als ein vermeintlich objektives Bild einer Stadt zu zeigen. Deshalb bieten wir in Berlin einen Workshop an, in dem wir unseren Ansatz der intuitiven Fotografie auf die Straßen tragen:

Das Gefühl der Stadt – Workshop Intuitive Fotografie in den Straßen von Berlin.

Zwei Filme, die in ihrer Zeit Aufsehen erregten und deren Bildsprache und Aussage auch heute noch spannend sind, sind Menschen am Sonntag und BerlinDie Sinfonie der Großstadt.

Beide Filme zeigen mit ganz unterschiedlichen künstlerischen Mitteln das Lebensgefühl im Berlin der Zwanziger Jahre in einem dokumentarisch-künstlerischem Stil und zählen bis heute zu den besten Filmen über die Stadt.

Filmkritiker und Drehbuchautor Oliver Rahayel hat sie sich für uns angesehen und beschrieben, was sie so besonders macht.

Menschen am Sonntag, 1930

Berlin–Die Sinfonie der Großstadt, 1927

„Menschen am Sonntag“ und „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“

Ein Gastbeitrag von Oliver Rahayel

Der Wert dokumentarischer Arbeit ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Ein Ort, eine Straße, eine Stadt, die heute filmisch oder fotografisch eingefangen werden, können schon ein Jahr später völlig anders aussehen. Gerade für eine Stadt wie Berlin, die sich seit jeher ständig verändert, gilt das ganz besonders. Noch mehr trifft das auf die Menschen zu, da sie permanenten äußerlichen wie inneren Veränderungen unterworfen sind.

Die Gegenwart festzuhalten – dies war das Ziel der Macher zweier wegweisender Berlin-Filme: „Menschen am Sonntag“ und „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“. Zwar war bei „Menschen am Sonntag“ auch das knappe Budget ein Grund dafür, dass auf offener Straße gefilmt wurde und nicht in einem Studio, ähnlich wie später im Neorealismus, dem Cinema Vérité und der Nouvelle Vague. Aber vor allem ist in jeder Szene der Wille spürbar, das Leben in seiner ganzen Bandbreite einzufangen, der Gegenwart des Jahres 1929, und das so unmittelbar wie möglich: das anonyme Leben in der Großstadt ebenso wie das bestimmter Personen, die sich praktisch selbst spielen.

Dabei wirkt der Film keineswegs improvisiert. Die späteren Hollywoodregisseure Wilder, Zinnemann, Ulmer und die Siodmak-Brüder lösten die Spielszenen mit diversen Einstellungsgrößen auf, und sie verwendeten selbst mitten im Berliner Trubel mehrere Kameraperspektiven, um ihre Hauptfiguren einzufangen. Dass diese keine berühmten Schauspieler waren, war dabei zweifellos von Vorteil. 

Menschen am Sonntag, 1930

Berlin–Die Sinfonie der Großstadt, 1927, Regie: Walter Ruttmann

Dabei mischen sich die Genres übergangslos. Die inszenierten Szenen stehen neben vielen dokumentarischen Sequenzen aus der Großstadt, teils in Vorbeifahrten und teils statisch aufgenommen, dafür mit mit reichlichen Schnitten. Umgekehrt ist „Die Sinfonie der Großstadt“ zwar einerseits dem Stilwillen Walter Ruttmanns unterworfen, der vom abstrakten Experimentalfilm kam. Aber natürlich hat er nicht gewartet, bis mehrere Händler gleichzeitig ihre Läden öffnen und die Büroarbeiter ihre Akten in die Hände nehmen, damit er davon eine Nahaufnahme drehen kann.

Milde inszenatorische Eingriffe prägen den Dokumentarfilm seit seinen Anfängen.

Beide Filme sind stumm und heute mit Musik unterlegt, die „Menschen am Sonntag“ kommunizieren nur auf einigen wenigen Zwischentiteln miteinander. Hier und noch stärker in „Die Sinfonie der Großstadt“, zwei Jahre früher entstanden, ist alles in ständiger Bewegung: Es wird gearbeitet, Züge fahren, Maschinen rotieren, Menschen eilen von A nach B, die ihre Arbeit machen, Geld verdienen, ein würdiges Leben leben wollen.

Die Schnitte sind schnell, sie verlaufen an den Grenzen der Takte, die die Musik vorgibt. Gerade die „Sinfonie“ vermittelt so noch immer einen Eindruck davon, wie hektisch es schon vor rund hundert Jahren in der Hauptstadt zuging. Indem der Film diese fast chaotische Vielfalt beschreibt, vermittelt er auch ein Gefühl von dem Geist, der damals offenbar noch in der Stadt herrschte: dem Geist der Freiheit.

Fotomontage aus dem Film: Berlin–Die Sinfonie der Großstadt

Hier und noch  konkreter die „Menschen am Sonntag“ machen scheinbar nur, was sie wollen: sie flirten, verabreden sich, fahren aufs Land, sie streiten und versöhnen sich – und das in einer eigentlich schweren Zeit. Deutschland hatte sich gerade erst vom Ersten Weltkrieg erholt und mühte sich offenbar mit viel Fleiß durch die Wirtschaftskrise: Die Straßen werden gefegt, die Autos poliert, die Haare frisiert.

Deshalb machen beide Filme auch wehmütig. Denn dieses Berlin ist längst untergegangen.

Es wurde, wie das ganze Land, wenige Jahre nach den Uraufführungen von den Nazis unterworfen, in den Krieg gezerrt und zerstört. Die meisten Wohnhäuser, Fabriken und Prachtbauten, die gerade der Ruttmann-Film in sorgfältig komponierten Bildern zeigt, teils realistisch, teils expressionistisch – sie sind verschwunden. So gehören diese Filme zu den wertvollsten Zeugnissen eines untergegangen Landes. 

Gerade in „Menschen am Sonntag“ spürt man zudem, dass nicht nur Gebäude verschwunden sind, sondern auch Lebensweisen. Bei aller gezeigten Arbeit durchweht den Film eine Unbeschwertheit, die in Berlin und Deutschland so lange schmerzlich vermisst und vielleicht erst in den vergangen Jahren wiedergefunden wurde.  

Einen Eindruck von diesem schwierigen Versuch, sich neu zu finden, nach Kaltem Krieg und Wiedervereinigung, vermittelt Thomas Schadts Version der Großstadtsymphonie von 2002. Was diese Filmen gemeinsam haben und zugleich einzigartig macht, ist der subjektive Blick seiner Macher, der umgekehrt geprägt war von dem, was sie sahen. Gerade dieser subjektive Blick ist es aber, der einen bis heute so fesselnden Eindruck vom Leben in der Stadt vermittelt. Wenn es in ähnlicher Weise heute wieder gelänge, Filme zu drehen oder Fotos zu machen, die das heutige Lebensgefühl einzufangen in der Lage wäre, was gerade im Kino so oft versucht aber kaum je erreicht wurde, dann wäre viel gewonnen: sowohl für die Menschen von heute, die sich darin wiederfänden, als auch für die von morgen und übermorgen, die sich dank solcher Bilder hoffentlich ohne Wehmut an die Zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts erinnern können. 

Danke, lieber Oliver

Links zu den Filmen:
Berlin–Die Sinfonie der Großstadt
Menschen am Sonntag


Das Gefühl der Stadt

Workshop Intuitive Fotografie in den Straßen von Berlin

14. Juli 2024

Berlin ist in diesem Workshop keine Kulisse, sondern ein lebendiger Organismus. Achtsam erforschen wir ihre vielen Schichten und verwandeln sie in Bilder, die mehr zeigen als die Oberfläche. Neugierig und offen für alles, was dir begegnet, fotografierst du die Stimmung Berlins und wie sie mit dir schwingt.

Mit der Kamera komponierst du deinen Song der Stadt.

Egal, in welchem Genre du zuhause bist, dieser Workshop wird deinen Horizont erweitern. Eine ideale Gelegenheit, Neues auszuprobieren, andere Fotograf:innen kennenzulernen, sich gegenseitig zu inspirieren und einen besonderen Tag in einer besonderen Stadt zu verbringen. Ob Profi oder Anfänger:in – alle sind willkommen.

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